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FAQs: Migration  FAQs: Migration

Kapitel 3  Kapitel 3

 

Klaus J. Bade, Jochen Oltmer, Normalfall Migration: Texte zur Einwandererbevölkerung und neue Zuwanderung im vereinigten Deutschland seit 1990, Bundeszentrale für Politische Bildung bpb 2004

Kapitel 4

Migration und Integration in Deutschland und Europa: Probleme und Perspektiven

In Deutschland ist die Bevölkerungsentwicklung, wie in allen Staaten im Einwanderungskontinent Europa, geprägt durch sinkende Geburtenraten, steigende Lebenserwartung und demographische Alterung. Das Erwerbspersonenpotenzial wird beispielsweise schon auf mittlere Sicht quantitativ und qualitativ immer weniger den Herausforderungen der Informationsgesellschaft im Globalisierungsprozess entsprechen. Daraus resultieren viele Zukunftsprobleme, nicht nur für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und die Systeme der sozialen Sicherung im Generationenvertrag, sondern auch für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt und die verschiedensten Lebensbereiche.

Deutschland braucht deshalb im Rahmen des Möglichen geregelte – und das heißt bei Zuwanderungsdruck immer auch begrenzte – Zuwanderung. Das ist heute weithin unumstritten. Früher wurde in Deutschland lange vergeblich um die Akzeptanz solcher Einsichten gekämpft. Heute muss man vor Überzeichnungen warnen; denn Zuwanderung ist in Sachen Zukunftsgestaltung nur ein Teilkonzept unter anderen, dessen Wirksamkeit nicht überschätzt werden darf.

Das fängt bei der Frage an, woher die Zuwanderer bzw. dauerhaften Einwanderer der Zukunft eigentlich kommen sollen. Und es endet mit der Frage nach ihrer Integration in Europa. Viele Europäer begegnen den „Fremden“ nach wie vor lieber im Urlaub als zu Hause, am Arbeitsplatz oder gar im Chefzimmer. Aber nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in ihrem östlichen Erweiterungsraum sinken, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Geburtenraten. Diesen Trend zeigt mittlerweile auch schon die Türkei mit ihrem zügigen Wandel vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland. Mehr noch: Im Jahr 2003 zeichnete sich eine erkennbare Tendenz zur Rückwanderung gerade von hochqualifzierten Mitgliedern der zweiten Einwanderergeneration in die Türkei ab. Sie kennen die Heimat der Eltern nur mehr von Urlaubsreisen her, haben dort als „Deutschländer“ erhebliche Integrationsprobleme, verlassen aber Deutschland, weil sie hier trotz guter Qualifikation keinen Arbeitsplatz finden können. Das aber bedeutet am Arbeitsmarkt in Deutschland eine weitere Schwächung des Angebots an qualifizierten Arbeitskräften und innerhalb der aus der Türkei stammenden Einwandererbevölkerung in Deutschland eine folgenreiche Verstärkung der Schieflage in der ohnehin gegenüber der deutschen Erwerbsbevölkerung noch immer stark zurückliegenden Qualifikationsstruktur.

Einwanderung ist außerdem, auch bei entsprechendem Qualifikationsprofil der zuwandernden Arbeitskräfte, kein allheilender Zaubertrank für die Strukturprobleme einer demographisch alternden Gesellschaft: Abstürzende Geburtenraten können nicht durch „Einwandererimport“ ausgeglichen werden. Gelegentlich wird die banale Tatsache übersehen, dass auch Einwanderer älter werden. Das gleiche gilt für die schon nicht mehr so triviale Information, dass sich – auch das gehört zur Integration – die Geburtenraten von Einwandererbevölkerungen zügig denen der Aufnahmegesellschaft anzugleichen pflegen. Schon deshalb kann soziale Sicherheit für morgen nicht etwa vorwiegend über Einwanderung finanziert werden.

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Sollte durch Einwanderung nur die heute bestehende Altersstruktur erhalten werden, dann müssten ab sofort und für lange Zeit jährlich in Deutschland nicht Hunderttausende, sondern Millionen von Einwanderern aufgenommen werden – ein nicht nur im Blick auf Migration, sondern vor allem auf Integration völlig absurdes Szenario. Die einschlägigen Warnungen vor den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialpolitischen Folgen der tief greifenden demographischen Veränderungen sind heute schon Geschichte: Engagierte Wissenschaftler haben sie seit Jahrzehnten immer wieder vorgetragen, doch weder Politik noch Gesellschaft verstanden sie als He­raus­for­derung und Gestaltungsaufgabe der Ge­genwart. Die Folgen der lange andauernden demonstrativen Erkenntnisverweigerung aber bestimmen heute die enger gewordenen Handlungsspielräume der Gegenwart und absehbaren Zukunft. Bekanntlich sind die potenziellen Eltern der Kinder von morgen schon gestern nicht mehr geboren worden, weshalb der „Generationenvertrag“ auf weite Sicht nicht mehr tragfähig sein kann.

Zwischen den einseitigen Extrempositionen von „Heilung“ durch Zuwanderung und „Gesundschrumpfung“ in geschlossenen Grenzen liegt die ausgleichende Mitte für Deutschland in einer vernünftigen Vermittlung zwischen geregelter Zuwanderung von außen und tief greifenden, mitunter auch schmerzhaften Reformen im Innern. Ihre unerbittlich absehbare Aktualität kann für hellsichtige Zeitgenossen auch durch die derzeit noch alles beherrschende Thematik der Massenarbeitslosigkeit nicht verdeckt werden. Die unausweichlichen Reformen zielen auf ein Bündel von zum Teil unerfreulichen Veränderungen, die schon 1993 das „Manifest der 60“ zum Thema „Deutschland und die Einwanderung“ gefordert hatte.

So ist die alternde Gesellschaft künftig unter anderem auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit angewiesen, die durch Straffung der Ausbildung und Erhöhung des Renteneintrittsalters erreicht wird. Die Rentenbeiträge werden weiter ansteigen, das Rentenniveau wird trotzdem sinken. Verstärkt und gegebenenfalls nachdrücklich müssen künftig Arbeitsmarktreserven unter Arbeits­losen ausgeschöpft werden, wobei es nicht um Verwaltung von Arbeitslosigkeit, sondern um präventive Anti-Arbeitslosigkeitspolitik geht. Nachdrücklich formulierte Angebote zur lebenslang anhaltenden Weiterbildung sind gefordert. Das setzt gezielte, stets auf ihre Effizienz und Arbeitsmarkttauglichkeit überprüfte Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen voraus, verbunden mit nicht minder streng evaluierten beschäftigungspolitischen Initiativen. Die im internationalen Vergleich niedrige Frauenerwerbsquote in Deutschland sollte durch gezielte Frauenförderung, Familienpolitik und Angebote zur Kinderbetreuung während der Berufstätigkeit (z.B. Kindertages­stätten, Vorschulen, Ganztagsschulen) angehoben werden. Hier kann man z.B. von Frankreich und Schweden viel lernen.

Erst im Kontext eines solchen, hier nur in einigen Beispielen skizzierten Reformprogramms kann geregelte Einwanderung begleitende Hilfestellung bieten und dazu beitragen, im Blick auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialsysteme die Folgen der nicht mehr aufzuhaltenden demographischen Prozesse abzufedern. Sie kann damit ein wichtiges Zeitpolster bieten für eine etwas behutsamere Einführung der überfälligen Reformen im Innern. Begrenzte Hilfe bei der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme können Einwanderer ohnehin nur dann leisten, wenn sie, sozialversicherungspflichtig, vom Ertrag ihrer Arbeit leben können und nicht auf Sozialhilfe oder gar Schwarzarbeit angewiesen sind. Ein Ersatz für die notwendigen Reformen im Innern aber ist Zuwanderung nicht. Sollte es zu einer weiteren Vertagung der längst überfälligen Gestaltung aktueller Probleme in die Zukunft kommen, dann werden nicht erst Enkel ihre Großeltern, sondern schon bald Kinder ihre Eltern im Generationenkonflikt anklagen wegen folgenschwerer Versäumnisse in einer Gegenwart, die dann schon Geschichte heißt.

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„Reine“ Migrationspolitik treiben zu wollen, wäre ohnehin ein wirklichkeitsfremdes Unterfangen. Gerade in diesem Bereich hängt buchstäblich alles mit allem zusammen: Die Folgen starker Abwanderung können für die Ausgangsräume ebenso vielfältig sein wie die Folgen von Zuwanderung in den Aufnahmeräumen. Vieles ist wenig „berechenbar“. Daher ist die sehr deutsche und z.B. kaum ins Englische zu übersetzende politische Unterscheidung zwischen „Zuwanderung“ und „Einwanderung“ bei langfristigen Planungen problematisch, sofern mit „Zuwanderung“ nicht nur eine Oberkategorie für alle in einem Raum eintreffenden Wanderungen gemeint ist; denn dahinter stehen immer schwer absehbare individuelle Lebensentscheidungen:

Es gibt fließende Grenzen und Übergangsformen zwischen Arbeitsaufenthalten auf Zeit, solchen auf unbestimmte Zeit, Daueraufenthalten mit dem Fernziel der Rückwanderung und definitiver Einwanderung mit dem Ziel auch der Einbürgerung. Was als Zuwanderung auf Zeit gedacht war, kann Einwanderung auf Dauer werden, und was als definitive Einwanderung gedacht war, kann in Zuwanderung auf Zeit stecken bleiben bzw. auch zum Abbruch durch Rückwanderung führen. Es kann gar, wie unzählige Beispiele zeigen, nach dem Abbruch erneut als Zuwanderung auf ungewisse Zeit beginnen, um dann schließlich doch in dauerhafter Einwanderung zu enden. Ei­nerseits sind Wanderungsabsichten und Wanderungsergebnisse also oft zweierlei. Andererseits sind Migration und Integration hochgradig eigendynamische Prozesse, die man nicht so klar regeln kann wie den Straßenverkehr.

Hinzu kommt, dass es bei allen Einschätzungen dieser Vielfalt von Wanderungsgeschehen und Wanderungsverhalten zwei nicht selten konträre Ebenen der „Wahrheit“ gibt: die Ebene der hoch aggregierten anonymen Zahlen mit ihren abstrakten Aussagen („Zuwanderung ist eine wirtschaftliche und kulturelle Bereicherung“ o.ä.) und die Ebene der individuellen Alltagserfahrung, einschließlich der mit Migration verbundenen oder darauf projizierten Hoffnungen, Erwartungen und Ängste, die ihrerseits bekanntlich politisch sehr folgenreich sein können, z.B. als Bestimmungsfaktoren beim Wahlverhalten.

Wer Migrationspolitik gestalten will, sollte deshalb weniger von Zahlen und mehr von Zielen reden in Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch in der Kulturpolitik. Es gilt, in langen Planungszeit­räumen und flexiblen Planungsperspektiven zu denken und nicht nur in den von Legislaturperioden skalierten Zeiträumen, zumal dabei ohnehin immer nur die ersten Jahre voll zählen, weil gegen Ende schon wieder Wahlkampf ist. Wer also in dieser Hinsicht nur bis drei oder vier zählen und nicht mindestens ein bis zwei Jahrzehnte vorausdenken und -planen will oder kann, der spielt in Sachen Migrationspolitik am falschen Tisch.

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Die innere Kehrseite von Migration heißt Integration. Migrations- und Integrationspolitik gehören zusammen wie zwei Seiten der gleichen Medaille. In den letzten Jahren wurde – endlich – viel und ernsthaft von „Integration“ gesprochen. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes von 2002 formulierte Integration nicht mehr nur als politisches Ziel, sondern erstmals als gesetzliche Aufgabe. Nicht zu übersehen ist aber, dass es neben vorausschauender im Rahmen des Möglichen auch eine „nachholende Integrationspolitik“ geben muss, die Folgerungen aus eigenen Fehlleistungen zieht: Es leben schon mehr als sieben Millionen Einwanderer der ersten, zweiten und schon dritten Generation im Land. Das wirft die Frage auf, ob hier nicht eine historische Bringschuld des Staates besteht; denn die meisten Zuwanderer haben die begleitenden Integrationsangebote, die heute als notwendig, ja selbstverständlich erachtet werden, nie erhalten. Und manche leiden bis heute unter den Folgen unzureichender Integration und fehlender beruflicher Qualifikation oder kämpfen mit Kommunikationsproblemen gegenüber der deutschsprachigen Umwelt aufgrund mangelnder Sprachfertigkeit.

Bei vielen ist ein sprachliches und berufliches Qualifikationsinteresse nach wie vor vorhanden. Dieses Interesse ist im Rahmen des finanziell Möglichen und durchaus auch mit begrenzter Eigenbeteiligung nachträglich zu bedienen. Bewährte Kurssysteme (z.B. „Mama lernt deutsch“) sollten nicht beschnitten oder gar eingestellt, sondern ausgeweitet werden. Es geht hier nicht um Almosen, sondern um die Minderung sozialer Probleme und deren kostspieliger Folgelasten.

Integrationspolitik ist aktive Gesellschaftspolitik und darf auch Mentalitätsprobleme nicht ausblenden: Einwanderungsprozesse können für Mehrheit wie Minderheiten mit erheblichen Identifikationsproblemen verbunden sein. Integration ist ein langfristiger, nicht selten Generationen übergreifender Sozial- und Kulturprozess, der auf das Hinzutreten neuer Gruppen und vielerlei andere Wechselbezüge nicht nur regulativ, sondern auch eigendynamisch antwortet. Die Integration von Migranten und Migrantinnen ist keine Einbahnstraße, bei der sich kulturell heterogene Einwanderergruppen einer als vergleichsweise homogen vorgestellten Aufnahmegesellschaft vollends anpassen, mithin als Gruppe im Assimilationsprozess mehr oder minder spurlos verschwinden. Integration ist also kein Sammelbegriff für nur einseitige Anpassungsleistungen der Einwanderer an die Gesellschaft im Aufnahmeland, sondern immer auch ein eigendynamisches gesellschaftliches Geschäft auf Gegenseitigkeit, das beide Seiten verändert. Das setzt Integrationsbereitschaft auch bei der Aufnahmegesellschaft voraus.

Assimilationsmodelle, die einseitig an linearen und insbesondere ethnonationalen bzw. ethno-kulturellen Vorstellungen orientiert sind, müssen zwar als abwegig gelten. Aber dennoch bleiben die im Einwanderungsprozess einzufordernden Anpassungsleistungen klar ungleich verteilt: Die zu erbringende und ausdrücklich einzufordernde, im weitesten Sinne zivilgesellschaftliche Anpassungsleistung liegt bei den Einwanderern meist erheblich höher.

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Für diesen gesellschaftlichen Lernprozess fehlt es in Deutschland noch an allgemein verständlichen Orientierungshilfen. Wir brauchen klar formulierte, für beide Seiten gültige Spielregeln für die Einwanderungsgesellschaft, die die Einwanderer meist auch selbst suchen. Diese Regeln müssen zweifelsohne mehr umfassen als Sprachkurse und Orientierungskurse mit, vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte, verschämtem Verfassungspatriotismus. Es geht auch um soziale Aspekte, um Bildungsaufgaben und berufliche Integration. Auch Integrationsberatung und -begleitung gehören dazu und nicht zuletzt auch Betreuungsangebote für jene – jenseits der beruflichen Kommunikation und bei abnehmendem Rückhalt in den Familien – immer einsamer werdenden „älteren Migranten“, die zu Hause oder in Altenheimen ihren Lebensabend in Deutschland verbringen. Dafür wirbt z.B. die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände seit langem, deren Organisationen, wie die Kirchen, in diesen Feldern eine Pionierrolle übernommen haben.

Integration als gesellschaftlicher Prozess darf aber auch nicht mit Integrationspolitik im Sinne rechtlicher Rahmung und politischer Prozessbegleitung gleichgesetzt werden: Die Einwandererbevölkerung wurde, auch in Deutschland, nicht etwa passiv von der Aufnahmegesellschaft auf dem Verordnungswege „integriert“. Sie bestand und besteht vielmehr aus handelnden Subjekten, die sich – Ausnahmen bestätigen die Regel – schrittweise und über die Generationen hinweg selber integrieren. Andernfalls hätte sich das Menetekel des ersten Ausländerbeauftragten und vormaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD), vom Ende der 1970er-Jahre auf furchtbare Weise erfüllt: Was man jetzt nicht rechtzeitig in die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien investiere, werde später für Resozialisierung und Polizei zu bezahlen sein. Dass es nicht dazu kam, hatte weniger mit deutschen Integrationshilfen als mit der Integrationsbereitschaft der Migranten zu tun. Dafür muss man einer Einwandererbevölkerung nicht dankbar sein, weil sie aus eigenem Entschluss zugewandert ist. Die Anerkennung der gesellschaftsgeschichtlichen Fakten wäre genug als Zeichen dafür, dass die deutsche Seite sich von einem Mythos mehr verabschiedet hat.

Integrationspolitik hat also die Aufgabe, für diesen sich mehr oder minder eigendynamisch entfaltenden gesellschaftlichen Prozess Rahmenbedingungen zu sichern, die dessen Entfaltung und die Entwicklung von darin eingeschlossenen Lebenskonzepten ermöglichen. Es geht darum, für Integration als Sozial- und Kulturprozess Rechts- und Planungssicherheit zu schaffen bzw. zu erhalten und dazu Rechtsvertrauen auf beiden Seiten zu stiften. Ausgleichs- und Vermittlungsfunktionen, wie z.B. Antidiskriminierungsmaßnahmen, können dazu beitragen, dass ethnische und kulturelle Minderheiten in ihren Partizipationschancen möglichst gleichgestellt werden und einzelne Gruppen im Einwanderungsprozess nicht unnötig gegeneinander driften oder gar gegeneinander ausgespielt werden.

In dem in vieler Hinsicht eigendynamischen Kultur- und Sozialprozess, den man vereinfacht „Einwanderung“ nennt, kann sich, im glücklichsten Falle, eine neue Solidarität in der Einwanderungsgesellschaft herausbilden. Unter diesem Dach können sich ethnokulturelle Identitäten als durchaus mit „Stolz“ benannte und mit Respekt akzeptierte individuelle Herkunftsadressen einordnen. Das hat nichts mit Ideologiestiftung im Einwanderungsprozess zu tun. Es geht schlicht um Gesellschaftspolitik in der Einwanderungssituation. Sie darf nicht unbegleitet bleiben im naiven Vertrauen auf einen gleichsam naturwüchsig friedlichen Verlauf gesellschaftlicher Prozesse.

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Migrations- und Integrationspolitik kann man nur mit der deutschen Mehrheit und nicht gegen sie machen, wenn es nicht zu Spannungen zulasten zugewanderter Minderheiten kommen soll. Bei fortgeschrittenen und nicht mehr umkehrbaren Einwanderungsprozessen – und um einen solchen handelt es sich in Deutschland – ist diese Politik aber ebenso nicht mehr ohne zureichende Berücksichtigung der Einwandererbevölkerung umzusetzen.

Integrationspolitik kann dabei durch Sicherheitspolitik konterkariert werden. Nach dem 11. September 2001 kann niemand mehr ernsthaft infrage stellen, dass Sicherheitspolitik als präventive Gefahrenabwehr im Innern und nach außen nötig ist. Es geht aber nicht um eine falsche Konkurrenz von Sicherheits- und Integrationspolitik, sondern um die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Sinne des Grundgesetzes und darum, unerwünschte Folgen von Maßnahmen der Sicherheitspolitik für Integration und Zuwanderung im Auge zu behalten.

Integration braucht Rechts- und Statussicherheit, mit anderen Worten: Migranten brauchen Sicherheit für die Entwicklung langfristiger Lebensperspektiven. Sicherheitspolitik für die Einheimischen aber kann als Verunsicherung für die Zugewanderten wirken, auch für solche, die sich längst als Einheimische fühlen. Notwendig sind deshalb Vertrauen bildende Maßnahmen unter dem Leitgedanken: „Ihr bleibt willkommen und seid nicht gemeint!“ Auch bei der Zuwanderung kann es Gefühle geben, unerwünscht zu sein oder aber aufgrund von Herkunft, Glaubensbekenntnis oder ethnischer Zugehörigkeit verdächtigt zu werden. Das kann die Zuwanderungsbereitschaft beeinträchtigen – nicht nur bei denen, die uns brauchen (beispielsweise Flüchtlinge), sondern auch bei denen, die wir brauchen (z.B. qualifizierte Wirtschaftswanderer).

Beachtet werden muss, dass es kollektive, z.B. ethno-kulturelle oder religiös-konfessionelle Identitäten und Solidaritäten gibt, die durch aggressiven Druck von außen zu inneren Abwehrfronten werden können. Kollektive Verdächtigungen von Zuwanderergruppen – z.B. von Muslimen als potenziellen Fundamentalisten oder gar Terroristen – können kommunikative Kettenreaktionen aus­lösen oder doch beschleunigen: Sie wirken als negative Integration, als Zusammenrücken der Mehrheit auf Kosten ausgekreister Minderheiten, die sich unter diesem Druck nur umso mehr in ihre eigenen Gruppen als Schutzgemeinschaften zurückziehen. Das wiederum können Einheimische ohne Migrationshintergrund als bewusste „Abkapselung“ oder gar als die Herausbildung von „Parallelgesellschaften“ missverstehen... – und schon dreht sich die Spirale wechselseitiger Verdächtigungen.

Es kann in einem Einwanderungsland eben nicht nur darum gehen, was die Aufnahmegesellschaft ohne Migrationshintergrund meint und intendiert. Es muss immer auch darum gehen, was die Einwandererbevölkerung bzw. die potenziellen Zuwanderer darunter verstehen. Orientierungshilfe dazu bietet das Bemühen, das eigene Land auch mit „fremden“ Augen zu sehen.

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Die Einheimischen akzeptieren die Integration von Einwanderern in großer Zahl und die damit verbundenen Veränderungen in der Aufnahmegesellschaft leichter, wenn Steuerung und Begrenzung nach außen die Einwanderung überschaubar halten. Nötig für eine geregelte Zuwanderung ist eine europäische Migrationspolitik, die diesen Namen verdient. Dann können Einwanderer, die man in den europäischen Einwanderungsländern mit unterschiedlichen Berufsprofilen braucht, mit klaren Anforderungen konfrontiert werden. Sie kennen die Kriterien und wissen, ob und wie sie ihre Chancen auf Zugang verbessern können. Sie können gegebenenfalls auch auf Wartelisten gesetzt werden, ohne sich durch Asylverfahren hindurchlügen oder gar illegale Wege beschreiten zu müssen.

Aber es darf keine Illusionen über die Grenzen der Gestaltbarkeit geben; die Handlungsspielräume für Migrationssteuerung sind durchaus begrenzt wegen umfangreicher, durch unterschiedliches Recht geschützter Zuwanderungen: Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung spricht in ihren – nachvollziehbaren – Berechnungen für das Jahr 2001 von ca. 250000 Zuwanderern mit Bleibeperspektiven. Viele Schätzungen über eine dauerhaft nötige oder auch schlicht erwartbare bzw. „sozialverträgliche“ Zuwanderung gehen von 250000 bis 300000 Zuwanderern mit dauerhaften Bleibeperspektiven aus. Die entsprechenden 250000 Zuwanderer des Jahres 2001 aber kamen – unter Ausschluss von Zeitwanderungen und bei gültigem Anwerbestopp – fast ausschließlich aus gesetzlich geschützten Präferenzbereichen: Familiennachzug (rund 80000), Asylbewerber, die mit einem Viertel der Antragszahlen verrechnet wurden (ca. 23000), Spätaussiedler (etwa 100000) und Juden aus der GUS (17000).

Bei 250000 solchen Zuwanderern und einem in gleicher Höhe veranschlagten jährlichen Zuwanderungssoll läge der Steuerungsbereich mithin schlicht bei Null. Bei einem Zuwanderungssoll von 300000 läge er gerade einmal bei 50000 Personen im Jahr. Der gordische Knoten kann nur durch eine Ausdehnung des Steuerungsbereichs zerschlagen werden. Das kann nicht generell auf Kosten des Familiennachzugs gehen und sollte die Möglichkeiten der schon stark beschränkten Asylgewährung nicht noch weiter einengen. Handlungsspielräume bieten sich indes bei der Aussiedlerzuwanderung:

Eingefordert werden könnte hier bei Aussiedlern aus den Nachfolgestaaten der UdSSR, wie bei den anderen Gruppen von potenziellen Antragstellern seit 1993 üblich, ebenfalls ein Nachweis des Verfolgungsschicksals, das bislang „widerleglich angenommen“, d.h. als gegeben vorausgesetzt wird, sofern kein Anlass zu begründetem Zweifel vorliegt. Neben die als Zugangskriterium schon nötige Sprachfertigkeit könnte auch eine zureichende berufliche Basisqualifikation als Kriterium für Zugangserleichterung bzw. -beschleunigung treten. Das sollte besonders für mitreisende Familienangehörigen nichtdeutscher Herkunft gelten, die heute bekanntlich fast 80 Prozent der zuwandernden Aussiedler stellen. Antragsteller und auf Mitreise hoffende Familienangehörige müssen in der Regel jahrelang auf den Aufnahmebescheid warten. Sie hätten also Zeit genug, sich zureichend und mit deutscher Hilfe vor Ort auf die erstrebte Einwanderung vorzubereiten, wenn es ihnen denn tatsächlich Ernst ist mit der Integration in Deutschland.

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Transparente Migrationsgesetzgebung und -politik als Rahmen für geregelte Zuwanderung sind auch ein Beitrag zum Kampf gegen internationale Schleuserkriminalität; denn reguläre Einwanderer und Arbeitswanderer brauchen keine Schleuser, um in ein europäisches Einwanderungsland zu kommen. Nötig ist dennoch ein unausgesetzter direkter Kampf gegen Menschenschleusung und Menschenhandel, deren international vernetzte Organisationen ständig wachsen; denn Menschenschleusung und Menschenhandel sind heute noch lukrativer als Drogenhandel und werden nicht selten von den gleichen Organisationen und auf den gleichen Wegen betrieben.

Vor überzogenen Erwartungen allerdings muss gewarnt werden: Durch Migrationsgesetzgebung und die Bekämpfung von Schleuserorganisationen wird die illegale Migration nicht einfach abgeschafft. Es wird sie, das ist eine historische Erfahrung aller Einwanderungsländer, immer geben. Und die Versuchung dazu wächst nicht zuletzt mit der Höhe des Zauns um das gelobte Land.

Daran ändern auch Einwanderungsgesetze wenig: Das zeigen beispielsweise die USA mit ihren Einwanderungsgesetzen, ihren scharfen Grenzkontrollen, ihren Blechzäunen und Wärmebildgeräten an den Grenzen zu Mexiko: Von der größten heute legal in den USA lebenden Einwanderergruppe, den „Hispanics“ also, kam der überwiegende Teil ursprünglich illegal ins Land. Aber Einwanderungsgesetze verhindern immerhin, dass an legaler Arbeitswanderung und Einwanderung Interessierte, die nicht zu den bevorzugten Gruppen zählen, in die Illegalität gedrängt werden.

Unerwünschter Wanderungsdruck erledigt sich nicht durch Migrationspolitik, Sicherheitspolitik und elektronische Grenzarmierung. Nötig ist auch eine Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen, soweit sie überhaupt bekämpfbar sind, durch nachhaltige Entwicklungspolitik in den Ausgangsräumen.

Dabei geht es nicht nur um den gezielten und vor allem kontrollierten Einsatz von Geld, sondern gegebenenfalls auch um friedensichernde Einsätze unter dem Dach der Vereinten Nationen oder anderer multinationaler Organisationen. Ein Europa, das sich dem verweigert, ist dazu verdammt, auf Dauer mit diffusen Ängsten vor anhaltendem Wanderungsdruck zu leben. Solange es aber statt eines europäischen Migrationskonzepts nur eine negative Koalition der Abwehr gegen unerwünschte Zuwanderungen gibt, so lange wirkt Europa selbst mit an der Illegalisierung der Zuwanderung und am Feindbild der „illegalen Einwanderung“.

Auf der europäischen Ebene und auf den nationalen Ebenen scheinen in Sachen Migrationspolitik die Uhren nicht nur mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sondern zum Teil sogar gegenläufig zu gehen. Während auf der europäischen Ebene die Erarbeitung supranationaler Gesamtkonzepte bereits weit fortgeschritten ist, fordern auf nationalen Ebenen populistische Stimmen eine Re-Nationalisierung migrationspolitischer Entscheidungen.

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Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat dem Rat und dem Parlament schon Ende des Jahres 2000 ein Rahmenkonzept für eine europäische Migrationspolitik vorgeschlagen, das die unausweichlichen Gestaltungsdimensionen klar umschreibt im Blick auf die Abstimmung mit den Ausgangsräumen, mit den Transitländern, mit den Wanderungszielen und mit den Migranten selbst. Die Kommission hat ihrem Rahmenkonzept eine Art europäischen „Knigge“ für den Übergang zu aktiver Migrationspolitik beigegeben, dessen Verhaltensmaßregeln auch auf nationalen Ebenen Beachtung finden sollten: „Der Wechsel zu einer bewussten Migrationspolitik erfordert politische Führungsstärke und ein eindeutiges Bekenntnis zur Förderung pluralistischer Gesellschaften sowie die Verurteilung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Es wird auf die Vorzüge der Einwanderung und der kulturellen Vielfalt hinzuweisen sein; bei Stellungnahmen zu migrations- und asylpolitischen Fragen wäre ein Sprachgebrauch zu vermeiden, der rassistischen Tendenzen Auftrieb geben oder die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen verschärfen könnte. Die Verantwortlichen müssen öffentlich ihre Unterstützung für Maßnahmen zur Förderung der Integration von neuen Migranten und ihren Familienangehörigen bekunden und für die Anerkennung und Akzeptanz von kulturellen Unterschieden innerhalb eines klar abgesteckten Rahmens von Rechten und Pflichten werben. Auch den Medien kommt in ihrer Funktion als Meinungsbildner diesbezüglich eine beträchtliche Verantwortung zu.“ Deutschland selbst hat, wie gezeigt, ­beachtliche Erfahrungen in Zuwanderungs- und Eingliederungsfragen. Das gilt nicht nur für seine in dieser Hinsicht ohnehin vielgestaltige Geschichte, sondern insbesondere für die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In Recht, Verwaltung und Alltag ist der Umgang mit Migration und Integration seit den 1990er-Jahren deutlich pragmatischer und „normaler“ geworden. Dennoch sind Migration und Integration im politischen Diskurs vielfach bis heute unterschwellig suspekte Problemthemen geblieben.

Daher ist es unverzichtbar, durch klare poli­tische Führung mit langfristigen Perspektiven für dreierlei zu werben: Erstens für die weitere Normalisierung des Umgangs mit Migration und Integration, zweitens für die Einsicht in die Gestaltbarkeit dieser Zentralbereiche des gesellschaftlichen Lebens in einem Einwanderungsland, aber auch – drittens – für eine pragmatische Einsicht in die Grenzen dieser Gestaltbarkeit angesichts der ebenso oft unterschätzten wie unnötig skandalisierten Eigendynamik von Migration und Integration.

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